Der Gesetzesentwurf in Voller Länge:
Gesetzesentwurf der Hessischen Landesregierung (CDU/Grüne)
vom 4.11.2022 (Drucksache 20/9471)
Änderrungsantrag der Hessischen Landesregierung (CDU/Grüne)
vom 7.03.2022 (Drucksache 20/10697)
Kritik der einzelnen Paragraphen zusammengefasst:
Diese Auflistung ist möglicherweise nicht ganz vollständig, soll es aber ermöglichen einen schnelleren und kompakten kritischen Überblick zu gewinnen.
§2 Begriffsbestimmungen und Anwendungsbereich
Die Definition von Versammlungen (“Eine Versammlung im Sinne dieses Gesetzes ist eine örtliche Zusammenkunft von mindestens
zwei Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung
gerichteten Erörterung oder Kundgebung”) ist zu eng gefasst und bezieht sich hier nur auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Spaß- oder Performance-Elemente von Protesten sind nicht in der Definition mit eingeschlossen, was die Durchführung von Camps oder Nachttanzdemonstrationen erschweren kann.
§3 Schutzaufgabe und Kooperation
Ein Versammlungsgesetz sollte dazu dienen Versammlungen zu schützen, die Ausübung der Versammlungsfreiheit zu gewährleisten, den ungehinderten Zugang zu Versammlungen zu ermöglichen, die freie Berichterstattung der Medien bei Versammlungen zu gewährleisten, einen schonenden Ausgleich zwischen der Versammlungsfreiheit und den Grundrechten Dritter herzustellen, sowie die Durchführung von Gegenversammlungen in Hör- und Sichtweite zu ermöglichen. Diese Schutzaufgabe wird nicht ausreichend erfüllt.
Das Gesetz sieht vor, dass Die Versammlungsbehörde zur Kooperation verpflichte ist, im Gegenzug sieht das Gesetz jedoch vor, dass Veranstaltende zu einseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen bereit sein sollen um die Wahrscheinlichkeit, dass es zu behördlichem Eingreifen kommt zu minimieren. Dies impliziert ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Veranstaltenden und stellt einen verdeckten Zwang zur Kooperation dar. Außerdem wird den Behörden erlaubt den Veranstaltenden gegenüber Informationen zurückzuhalten was dem Kooperationsgebot widerspricht.
§9 Uniform-, Militanz- und Einschüchterungsverbot
Die Polizei und staatlichen Behörden bekommen das Recht, in die optische Gestaltung einer Veranstaltung einzugreifen. Sie dürfen zukünftig festlegen, welche Gegenstände und Verhaltensweisen verboten sein sollen. Dies greift nicht nur massiv in die Freiheit ein, eine Versammlung, z.B. durch farblich einheitliches Auftreten, optisch zu Gestalten, sondern nimmt den Versammlungsteilnehmer*innen die Planungssicherheit und Autonomie in der Gestaltung ihrer Versammlung. Dieses sogenannte Militanz- und Einschüchterungsverbot ist geprägt von subjektiven Wertungen und Rechtsunsicherheiten von Seiten der Behörden, bspw. welche Verhaltensweisen mit “Gewaltbereitschaft” assoziiert werden. Es ist geeignet, Versammlungen in ihrer Wirkung einzuschränken und zukünftig schon im Vorfeld einschränkende Anordnungen zu treffen. Die Sanktionierung des Nichtbefolgens dieser Anordnungen wird mit Bußgeldern belegt und schafft somit Unsicherheiten und hat eine Abschreckungswirkung.
§11 Anwesenheit der Polizeibehörden
Die Polizei bekommt ein nahezu uneingeschränktes anlassloses Anwesenheitsrecht was einen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darstellt und der Vorgabe der Staatsferne entgegen steht. Zusätzlich soll es eine Ordnungswidrigkeit darstellen Polizeikräften die Anwesenheit zu verweigern. Die Anwesenheit der Polizei hat ein hohes Potential der Abschreckungswirkung auf potentielle Teilnehmer*innen, weil diese suggeriert, dass von der Versammlung Gefahren ausgehen. Außerdem kann eine hohe Polizeipräsenz einschüchternd und abschreckend auf die umstehende Öffentlichkeit wirken. Zusätzlich wird dadurch die Kommunikation von Versammlungsinhalten erschwert oder verhindert. Im schlimmsten Fall prägt die Polizei das gesamte Bild der Versammlung.
Es gibt keine Pflicht für Zivilbeamte sich zu erkennen zu geben. Dies stellt einen schweren Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar und auch das widerspricht dem Prinzip der Staatsferne von Versammlungen.
§12 Anzeige- und Mitteilungspflicht
Die Ausnahme von Samstagen, Sonn- und Feiertagen verlängert die Anzeigefrist und widerspricht dem Grundgesetz das vorsieht, dass Versammlungen grundsätzlich anmeldefrei sind. Zudem werden von Versammlungsleitungen mehr persönliche Daten als bisher üblich verlangt und es können auch persönliche Daten von Ordner*innen verlangt werden, was bisher nicht der Fall war. Darüber hinaus können Versammlungsleitungen sowie Ordner*innen als ungeeignet abgelehnt werden. Voraussetzung für die Anforderung der Daten der Ordner*innen ist, dass zu befürchten sei, dass von der Versammlung (nicht von den jeweiligen Ordner*innen) „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ ausgeht – was allein schon mit Gefahren für den Straßenverkehr bei nahezu jeder Versammlung gegeben sein dürfte.
Es ist unklar anhand welcher Kriterien die Ungeeignetheit bestimmt wird. Um zu prüfen ob Personen geeignet sind, müssten Behörden Listen mit persönlichen Daten anlegen und speichern. Das würde gegen das Recht auf Anonymität und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verstoßen, birgt die Gefahr der Ausforschung durch staatliche Stellen und hat dadurch eine erhebliche abschreckende Wirkung.
In der Praxis erschweren diese Vorschrift das Veranstalten von Versammlungen. Ordner*innen werden oft erst spontan organisiert, sodass ihre Daten im Vorfeld nicht bekannt sind. Außerdem besteht, gerade bei politisch kontroversen Anliegen, die Angst vor einer Erfassung durch Polizei und andere Behörden. Das Gesetz kann also dazu führen, dass es in Zukunft schwerer wird Ordner*innen zu finden, sodass die Ausübung von Versammlungen deutlich erschwert wird.
§14 Beschränkungen, Verbot, Auflösung
Es soll möglich sein Versammlungen aufgrund der Gefährdung der öffentlichen Ordnung einzuschränken. Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist sehr vage und sollte deshalb gestrichen werden. In keinem der anderen Versammlungsgesetze ist eine Versammlungseinschränkung anhand der öffentlichen Ordnung möglich.
Gut ist, dass Beschränkungen und Verbote unverzüglich gemeldet werden sollen, da Versammlungsleitungen in der Vergangenheit teilweise erst wenige Stunden vor der Versammlung über geplante Änderungen der Auflagen informiert wurden.
§15 Teilnahmeuntersagung und Ausschluss gegen einzelne Personen
Personen darf lange vor der Versammlung die Teilnahme an dieser untersagt werden. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, Personen grundsätzlich die Teilnahme an Versammlungen zu versagen und damit deren Grundrechtsausübung vollständig einzuschränken. Zudem ist es für Laien schwer zu beurteilen welche Situationen vorliegen müssen, damit einem die Teilnahme an einer Versammlung untersagt wird.
§16 Durchsuchung und Identitätsfeststellung
Der Polizei wird erlaubt Kontrollstellen zur Durchsuchung und Identitätsfeststellung zu errichten. Dies umfasst stationäre, sowie auch mobile Kontrollstellen. Das kann auf Versammlungsteilnehmende abschreckend wirken, weil das Recht auf Anonymität damit entfällt. Solche Kontrollen kriminalisieren von vorne herein den Protest und suggerieren, dass von der Versammlung eine Gefahr ausgeht. Durchsuchungen auf Basis der öffentlichen Ordnung sind unverhältnismäßig. Außerdem wird die Durchsuchung nach Gegenständen ermöglicht die erst dann verboten werden, wenn sie nach subjektiver Bewertung eine Gefahr darstellen. Das ermöglicht willkürliche Durchsuchungen.
§17 Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton
Menschen, die sich politisch betätigen und das bei Versammlungen sichtbar zeigen, fürchten zurecht, dass dies durch Abfilmen von Versammlungen registriert und gespeichert wird. Im Sinne eines demokratischen Gemeinwesens, zur Gewährleistung der Versammlungsfreiheit und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sollte daher auf Videoaufnahmen und -aufzeichnungen im Kontext von Versammlungen weitgehend verzichtet werden.
Im Gesetz wird zwischen Aufnahmen und Aufzeichnungen unterschieden. Bei Versammlungen ist es für Teilnehmende allerdings nicht möglich dazwischen zu unterscheiden, wenn eine Kamera auf sie gerichtet wird. Allein schon auf Teilnehmende bzw. ihr Umfeld gerichtete Videokameras entfalten die verfassungsrechtlich unerwünschte einschüchternde und abschreckende Wirkung allein durch ihre Präsenz.
Die Schwelle dazu Bild und Tonaufnahmen einer Person zu machen ist sehr niedrig angesetzt. Sie sollen möglich sein wenn „tatsächliche Anhaltspunkte die Annahmen rechtfertigen, dass von der Person eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht“. Die öffentliche Ordnung als Eingriffsrechtfertigung ist auch hier sehr vage. Genauso vage und unklar formuliert ist die Gesetzesbegründung, sodass das Gesetz einen Freifahrtschein zur Videobeobachtung und -aufzeichnung für die Polizei ist.
Die Gesetzesbegründung führt auf, dass “Übersichtsaufnahmen” von Versammlungen zur polizeilichen Lagebeurteilung unabdingbar ist. Allerdings ist die Polizei in der Vergangenheit immer ohne solche Aufnahmen ausgekommen. Außerdem ist die „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ bei Versammlungen kein Ziel das die daraus folgenden Grundrechtseingriffe begründet. Schon weniger als 100 Teilnehmende sollen dafür ausreichen, dass eine Versammlung als unübersichtlich gilt. Die vorgesehenen “Übersichtsaufnahmen” stellen einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar und sind laut dem nach dem Bundesverfassungsgericht nicht stets zulässig, sondern bedürfen einer Gefahrenprognose.
Erst recht dürfen diese “Übersichtsaufnahmen”, die vorgeblich zur „Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ gestattet werden sollen, nicht aufgezeichnet werden – denn sonst könnten ganze Demonstrationen mit all ihren Teilnehmenden abgefilmt und aufgezeichnet werden. Auch polizeiliche Drohnen sollten nicht genutzt werden dürfen da sie nochmals eine erhöhte Abschreckung erzielen.
Die Speicherung von Bild- und Ton-Aufzeichnungen zur Gefahrenabwehr für künftige Versammlungen ist zu streichen. Die von der Person ausgehende Gefahr scheint sich ja nicht konkretisiert zu haben, entsprechend ist unverständlich, warum Aufzeichnungen wegen dieser vermeintlichen Gefahr vorgehalten werden sollten.
§18 Schutzausrüstungs- und Vermummungsverbot
Es soll in Hessen bei Versammlungen gänzlich verboten werden, die eigenen Gesichtszüge zu verändern oder zu verbergen, um sich vor einer „hoheitlichen“ Identifizierung zu schützen oder Gegenstände mit sich zu führen, die zur Vermummung genutzt werden könnten. Explizit erwähnt wird auch das „Bemalen [des Gesichts], Masken [und] Aufkleben falscher Bärte“. Nicht nur werden Mund-Nasenschutzbedeckungen, die (wie wir mittlerweile alle wissen) zum Schutz vor Infektionskrankheiten wichtig sind, mit keinem Wort zu einer möglichen Ausnahmeregelung (in der Grippesaison oder für vulnerable Gruppen etc.) erwähnt, sondern es wird damit auch ganz explizit Kreativität wie Theater oder Gesichtsmasken von Politiker:innen von Demos verbannt.
Darüber hinaus gibt es für Vermummung weitere wichtige und legitime Gründe, schon allein aus Überlegungen des Minderheitenschutzes und aus dem Risiko heraus, aufgrund der eigenen politischen Gesinnung von politischen Gegner*innen oder vom Staat verfolgt zu werden. Solange die eigene Meinung durch körperliche Anwesenheit bei Versammlungen friedlich vertreten wird, darf ein demokratischer Staat nicht darauf bestehen, unter Strafandrohung feststellen zu wollen, wer da demonstriert.
Insbesondere das Vermummungsverbot dient der Polizei häufig, um gewaltvoll gegen einzelne Teilnehmer*innen oder gesamte Versammlungen vorzugehen oder um andere Eingriffe zu rechtfertigen, etwa Videoaufzeichnungen.
Dass grundsätzlich erst einmal allen Versammlungsteilnehmer*innen ein Recht auf Anonymität zusteht, wird allerorts durch repressive Praxis ignoriert.
Warum BIPoC, Migrant*innen und Muslima besonders vom Gesetz betroffen sind:
1. Verschleierung aus religiösen Gründen fällt möglicherweise unter das Vermummungsverbot. In der Gesetzesbegründung fehlt jegliche Erläuterung, dass Verschleierung aus religiösen Gründen auf Versammlungen erlaubt ist.
2. Gerade bei den solidarischen Protesten zu Frau,Leben,Freiheit hatten viele hier lebende Iraner*innen Sorge teilzunehmen, angesichts der Gefahr von der iranischen Regierung über Social Media erkannt zu werden. Wer also an einem legitimen Protest nur vermummt teilnehmen möchte, um sich und evtl. Angehörige vor Repressionen im Herkunftsland zu schützen, begeht künftig grundsätzlich eine Ordnungswidrigkeit. Das ist absurd und gibt autoritären Regimen die Möglichkeit so indirekt in Deutschland lebenden Menschen in ihrer Meinungsfreiheit zu beschneiden.
3. Durch die erweiterten Rechte der Polizei Identitätskontrollen durchzuführen, sind aufgrund von Racial Profiling voraussichtlich BIPoC besonders betroffen. Der durch das Gesetz voraussichtlich erhöhte Polizeikontakt ist aufgrund dem Wissen um Racial Profiling und Polizeigewalt gegen BIPoC eine mögliche Abschreckung für einige BIPoC. Insbesondere Menschen, welche (noch) keinen sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland haben, werden durch die Identitätskontrollen vermutlich in den meisten Fällen davon abgehalten, an Versammlungen teilzunehmen.